DE/CO Briefwechsel als Selbstlernaufgabe in Isolation. (9 von 10)

Im November 1919 gründete Bruno Taut einen der berühmtesten Briefzirkel zum Austausch utopischer Visionen für Architekten und Künstlern des letzten Jahrhunderts: Die Gläserne Kette. Ganz im Stile der avantgardistischen Kunstbewegung wollen wir uns in Zeiten von social distancing mithilfe von sogenannten „Handlungsanweisungen“ austauschen.

Liebe DE/COs,

in Zeiten der Isolation kann man sich manchmal bei kuriosen Tätigkeiten beobachten. Vor einigen Wochen fand ich mich, im Serien- und Podcast-Überdruss, vor meinem Bücherregal stehend wieder. Ein Buch nach dem anderen wurde auf das Bett getragen und plötzlich verbrachte ich blätternde Stunden vor herrlichen Passagen. Und wie ich da so zwischen Bett und Regal hin- und hermäanderte, musste ich an euch denken. An die vielen Diskussionen darüber, wie wir das, was wir an Erzählungen zu unseren Entwürfen im Kopf tragen, mit anderen teilen können.

Meine Handlungsempfehlung steht deshalb unter dem Motto imagination & image. Aus Romanen, Gedichten und Songs habe ich eine Auswahl kurzer Auszüge zusammengestellt. Und nun möchte ich euch dazu einladen, euch eines dieser Textfragmente auszusuchen und ein Bild dazu zu komponieren. Atmosphäre, Materialität, Protagonisten, Blickachsen, Komposition, Erzählung, Fokus, Abstraktion – über all‘ das darf nachgedacht werden. Ich freue mich sehr auf eure Antworten.

Viele Grüße
Nelli

Textauszüge

„Man denkt nicht oft genug an die Treppen. Nichts war schöner in den alten Häusern als die Treppen. nichts hässlicher, kälter, feindseliger, kleinlicher in den Mietshäusern von heute. Man sollte lernen, mehr in Treppenhäusern zu leben. Aber wie?“
(Georges Perec – Träume von Räumen)

„Manchmal hörst du ganze Abende lang zu, halb auf deiner schmalen Bank ausgestreckt, als einziges Licht den fahlen, schwachen Schein der durchs Mansardenfenster kommt und den lediglich, fast regelmäßig, die rötliche Glut deiner Zigarette aufhellt, wie dein Nachbar hin- und hergeht. Die Wand die eure beiden Zimmer trennt, ist so dünn, dass Du fast seinen Atem hörst, dass du ihn noch hörst, wenn er in Socken herumschlurft[…]. Du weißt nur, dass sein Zimmer größer ist als das deine, weil er sich darin bewegen kann, sich darin bewegen muss, um sein Fenster zu erreichen oder sein Bett oder seine Tür oder seine Schränke, während du von der Mitte deines Zimmers aus, die Füße eng zusammengestellt, mit den Händen jeden beliebigen Punkt erreichen kannst, das Fenster, die Tür, das kleine Lavabo, die Kleiderablage, die rosa Plastikschüssel.“
(Georges Perec – Ein Mann der schläft)

„Betreffend Wohnen. Wieviel bestimmen die Möbel, ihre Stellung zu einander, ihre Erscheinung, ihre Brauchbarkeit. Dass sie bezahlt sind, macht auch etwas aus; eine Art von Erpressung, dass man sie benutzt, und schließlich habe ich sie ja aus einem Bedürfnis erworben, z.B. aus dem Bedürfnis, nicht allzu unbequem mit zwei bis drei Zeitgenossen zu sitzen. Einer fragt: Welches ist Ihr Sessel? So eingewohnt sieht er uns schon. Und tatsächlich: schon sind die Gewohnheiten eingezogen. […] Auch räumliche Verfügungen, die sich sofort als unpraktisch erweisen, werden sakrosankt, während und obschon man noch Veränderung erwägt, dank meiner Bequemlichkeit, die sich darin ausdrückt, dass ich mich an das Unbequeme gewöhne. Wir haben angefangen zu wohnen, wir sind schon gewohnt.“
(Max Frisch – Aus dem Berliner Journal)

„Isolation, isolation, isolation.
But if you could just see the beauty,
These things I could never describe,
These pleasures a wayward distraction,
This is my one lucky prize.
Isolation, isolation, isolation. “
(Joy Division – Isolation)

Termine

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