Eine Masterthesis von Marlene Mezger
„Das modernen Wohnhaus entstammt dem Bohèmeatelier im Mansardendach […|, das aus Zufällen aufgebaut ist“. Dieser 1913 in „Das Haus als Weg und Platz“ veröffentlichte Satz des Architekten Josef Frank bildet den Ausgangspunk der vorliegenden Arbeit, die folgenden Fragen nachgeht:
Lassen sich Franks Entwurfstheorien in die heutige Zeit übertragen? Inwieweit finden sich darin räumliche Lösungen für die derzeitigen Herausforderungen des Wohnungsbaus? Welche Elemente lassen sich adaptieren, um, wie der Architekt schreibt, „der trostlosen Öde des rechteckigen Zimmers zu entgehen“?
Auseinandersetzung mit Josef Frank
Um Antworten auf die, teils widersprüchlichen, Aussagen von Frank zu finden und seine Arbeit in ihrer Bedeutung zu verstehen, erfolgt in der ersten Phase der Arbeit eine wesentliche Analyse des Architekten, seiner Entwurfstheorien, sowie der kontextuellen Zusammenhängen und Einflüssen auf ihn. Untersucht wird dabei vor allem die Bedeutung des „Zufalls“ in Franks Entwurfshaltung, für welchen er erst 1958 den Begriff des „Akzidentismus“ findet. Ein Gestaltungsansatz, der „unsere Umgebung so gestalten [soll], als wäre sie durch Zufall entstanden.“
Frank bedient sich in seinen Texten der Metaphorik der Stadt („Ein gut organisiertes Haus ist wie eine Stadt anzulegen mit Straßen und Wegen die zwangsläufig zu Plätzen führen“), sowie des Dachgeschosses („Im Dachatelier half der Zufall mit, der fast immer angenehm und unpersönlich wirkt“), um das Zufällige zu verbildlichen und seinem Wunsch nach einer lebendigen und abwechslungsreichen Architektur Ausdruck zu verleihen.
Ort: Lehrter Straße 48, Berlin-Moabit
Im Dachgeschoss, des 1893 entworfenen Berliner Gebäudes aus der Gründerzeit, ist all das zu finden, was Josef Frank an diesem versteckten, übrig gebliebenem Raum faszinierte: „viele Ecken, krumme Wände, Stufen, Niveauunterschiede, Säulen und Balken“. Das oberste Wohngeschoss (4. Stock) mit dem, sich darüber befindenden, unbeachteten Dachraum bietet die ideale Grundlage für den Entwurf.
In der zweiten Phase der Arbeit erfolgt die Bestandsaufnahme des Vorgefundenen. Durch Untersuchungen, Studien und das Aufmaß der Räume werden diese in Handzeichnungen und Fotografien festgehalten, um sie anschließend in CAD-Zeichnung und Modell zu übertragen. Die nicht-tragenden Wände des 4. Stocks werden dabei außer Acht gelassen.
Das Haus als Weg und Platz
In der dritten Phase der Arbeit wird ein kontinuierlicher und inszenierter Weg durch die beiden oberen Geschosse gestaltet. Die äußeren Umfassungen des Bestandsgebäudes formen dabei die Rahmenbedingung des Entwurfs. Der vorherige, starre und standardisierte Grundriss wird infolge der neuen Durchwegung durchbrochen. Sie bildet die Grundlage der neuen innenräumlichen Struktur.
Die Entwicklung der Räume erfolgt aus der wahrnehmbaren Abfolge der unterschiedlichen Bereiche beim Durchschreiten des Hauses heraus. Die abwechslungsreichen Raumerlebnisse – bestehend aus Wegen, Plätzen, Bewegungs- und Ruhezonen, hellen und dunklen Orte, sowie privaten und öffentlichen Bereichen – enthüllen sich in der Vorwärtsbewegung. Sie erzeugen Spannung und überraschungsreiche Momente, die nicht nur die Neugier der Nutzer:innen weckt, sondern auch ihre unterschiedlichen Bedürfnisse befriedigt.
Eine, von innen heraus entwickelte, räumliche Komplexität entsteht, charakterisiert durch unterschiedliche Räume, die sich auf verschiedenste Weise miteinander verknüpfen lassen. Ein essenzieller Bestandteil bildet dabei die Tür, welche diese miteinander verbindet. Durch das Öffnen oder permanente Schließen, ermöglicht sie Flexibilität. In den beiden obersten Geschossen lassen sich dadurch 2-5 Wohnungen von unterschiedlichsten Größen kreieren. Sie sind erweiterbar oder lassen sich verkleinern. Räume, die ans Treppenhaus anschließen, können gemeinschaftlich und für das ganze Haus zugänglich genutzt werden oder sie verwandeln sich zum Extraraum einer Wohnung. Ein Reagieren des Wohngrundrisses auf die sich ständig ändernden Anforderungen an das Wohnen wird ermöglicht.
Das Zufällige
Der Zufall wird als Bestandteil der Architektur aufgenommen. Bestehende Elemente des Kontextes, sowie zufällige Unregelmäßigkeiten werden als Formgebung genutzt und in eigene architektonische Ideen transformiert. Die Arbeit folgt somit Hermann Czechs Interpretation von Franks Forderung nach einem „gestalteten Zufall“, indem sie Architektur als Veränderung von Vorgefundenem auffasst.
Dabei fließt nicht nur die Auseinandersetzung mit Josef Franks Theorien in den Entwurfsprozess mit ein, sondern auch der persönliche Bezug der Entwerferin mit der Bestandswohnung, in der sie mehrere Jahre gelebt hat. Die Position der Nutzer:innen (das „Lebendige“) als auch der bestehende Kontext (das „Zufällige“) werden beim Entwerfen berücksichtig und bilden eine selbstverständliche Komponente der Arbeit.
Der Entwurf illustriert beispielhaft, was für ein Potenzial in dem vergessenen Dachraum liegt. Ein Möglichkeitsraum, von dem auszugehen ist, dass er in einer Vielzahl in Berlin existiert. In der Balance zwischen dem „Festgelegten“ und dem „Offenen“ vermag die Architektur es, die „Lebendigkeit“ des Bewohnens in den Entwurf aufzunehmen und damit vertieft auf das Wohnen des Menschen einzugehen. Mit seinen durchentworfenen Räumen und Elementen stellt er ein Gegenmodell zur Architektur der Leere dar und wirft die Frage auf: Bietet das Gestaltete vielleicht für die Bewohnenden mehr Freiheit als das Nichtbestimmte?
Die Masterthesis wurde betreut von Prof. Jan Kampshoff (Erstgutachter) und Prof. Dr. Matthias Noell (Zweitgutachter)