Kontextualisierung von Architekturen aus totalitären Systemen.
Masterarbeit von Jasmin Rettinger & Johannes Medebach

Etwa fünfzehn Kilometer nördlich der Berliner Stadtgrenze liegt Bogensee. Abgelegen im Wald stehen sich hier zwei ungewöhnliche Bauten gegenüber: der ehemalige Landsitz von Joseph Goebbels, dem Reichspropagandaminister der NS-Zeit und die frühere Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“, Kaderschmiede der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Selten vereinen sich solch bauliche Zeugen totalitärer Systeme auf einem Grundstück. Seit der Jahrtausendwende steht der Komplex im brandenburgischen Wandlitz unter Denkmalschutz, jedoch leer. Unsere Masterthesis will eine Alternative zum von der Stadt Berlin als Eigentümerin erwogenen Abriss aufzeigen und fordert einen Umgang mit diesem unbequemen Erbe.

 

Keine beliebige Immobilie

In der Recherche begegnete uns eine allgemeine Ratlosigkeit und Schwerfälligkeit angesichts eines festgefahrenen, 25 Jahre andauernden Diskurses über die Zukunft des 17 Hektar großen Areals. Mannigfaltige Nachnutzungsvorschläge zwischen rationaler Durchökonomisierung, Absurdität und hoffnungsvoller Utopie scheiterten. Sie behandelten Bogensee wie eine beliebige Immobilie. Für uns war klar, dass vor einer alltäglichen Nachnutzung Bogensees erst eine eindeutige Kontextualisierung der Geschichte der Bauten stattfinden muss. Aufgrund der zahlreichen Ausflugsziele und Naherholungsgebiete in der Umgebung liegt auch in Bogensee eine touristische Nutzung nahe. Schon jetzt besuchen viele Interessierte das Areal, vor Ort fehlen jedoch Hinweistafeln.

Lageplan und Übersicht der behandelten Räume

Die Köpfe der Ideologien

Als Lern- und Besuchsort soll Bogensee zukünftig die Kernthemen seiner Geschichte erzählen: Propaganda, Faktenverdrehung, Indoktrination. Joseph Goebbels verfasste in seiner Villa Hetzreden, zensierte Filme und Radiosendungen. In der FDJ-Schule wurden junge Menschen auf die starre Lehre des Marxismus-Leninismus eingeschworen. Architektur kann diese Ideologie ausdrücken. Einzelne Gestaltungsmittel sind zwar nie per se ideologisch, können jedoch als Werkzeuge dienen, um Raum in Bezug auf Identität, Hierarchie, Macht und Gemeinschaft zu prägen. Der überhöhte Spitzgiebel, biedere Fensterläden, die hölzerne Kassettendecke oder der Bruchsteinsockel: Viele Elemente der im „Heimatschutzstil“ gestalteten Villa sollten „Deutschtum“ ausdrücken. Die Bauten der FDJ-Schule hingegen sind im Stil des „Sozialistischen Klassizismus“ gestaltet, der offiziellen Architektursprache des Stalinismus. Anlehnungen an Schlossarchitekturen und reich verzierte Oberflächen sollten die Überlegenheit des Systems versinnbildlichen.

Gruppenfoto Modelle

Das Selbstbild der Bauten stören

Vier Räume, die besonders relevant für das Erzählen der Geschichte sind, sollen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden: Goebbels Filmsaal und repräsentative Diele, der zentrale Mensaraum und der Lektionssaal der FDJ-Schule. Auf einem Rundgang über das Areal sollen sie miteinander verbunden werden. Neue, direkte Zugänge „entweihen“ die ursprünglichen Eingänge, um ihr Pathos zu brechen. Abgesehen davon bleibt der Bestand vorerst unangetastet. Grundlegende Funktionen wie Infopunkt, Gastronomie, Sanitär und Veranstaltungsflächen machen eine touristische Nutzung möglich. Unsere Interventionen beziehen sich auf Widersprüche und Diskrepanzen in der Architektur der Bestandsbauten. Mit den Mitteln der Architektur wollen wir das nach außen getragene Selbstbild dieser Bauten stören und damit die totalitären Systeme entlarven, die einen absoluten Anspruch proklamierten.
Vor dem Entwerfen beschäftigten wir uns mit der Frage wie viel Ideologie in Architektur stecken kann, beziehungsweise mit welchen Gestaltungsmitteln sie ausgedrückt wird. Dabei gingen wir zeichnerisch und vergleichend vor. Die kompletten Analysen zur allgemeinen Ideologie und der Atmosphäre des Bestandes sind in zwei Booklets zusammengefasst einsehbar.

 

Finger in die Wunde legen

Unsere Entwurfsstrategie folgt dem Narrativ des „Spiegel vorhalten“: Architektonische Merkmale und Eigenheiten des Bestands replizieren und überformen wir so, dass eine kommentierte Aussage über das Wesen des Raumes durch unsere Wiederholung gegeben ist. Die Materialität aus verzinktem Stahl hebt unsere Bauten klar vom Bestand ab und unterstreicht ihre Modellhaftigkeit. Anstatt mit einer scheinbar „neutralen“ Architektursprache den Anspruch zu erheben, dass wir unsere Vergangenheit überwunden haben, möchten wir den Finger in die Wunde legen. Unsere Masterarbeit gibt den ersten Anstoß in Richtung einer schrittweisen Nachnutzung Bogensees und stellt sich dem unbequemen Erbe unserer Geschichte. Gerade in einer Zeit, in der sich wieder Tendenzen extremerer politischer Positionen abzeichnen, ist dies unerlässlich.


Intervention Filmsaal

Der neue Eingang des „Waldhofs“ bildet den Auftakt zum Rundgang über das Gelände. Der Dachstuhl der eingeschossigen Villa ist komplett ungenutzt. Er dient nur zur Indikation eines „traditionell deutschen“ Hauses. Unsere Intervention wiederholt die Form des Dachs und stellt so sein leeres Gerippe bloß. Hinter dem Eingang befand sich früher der Filmsaal, in dem Joseph Goebbels sämtliches Filmmaterial ansah und zensierte.

Modell 1:50

 

Intervention Diele und Terrasse

Die Intervention auf der Terrasse des „Waldhofs“ versperrt den idyllischen Ausblick in die Natur und wirft auf poliertem Stahl den Besucher*innen ihr eigenes Spiegelbild zurück. Sie verhindert eine Verdrängung des Geschehenen und fordert eine Auseinandersetzung mit sich selbst und der Geschichte des Nationalsozialismus, die auch für kommende Generationen essenziell sein muss. Die Struktur weist auf modernistische Elemente hin, die sich unter der deutschtümelnden Oberflächengestaltung verbergen und die den Nationalsozialist*innen eigentlich ein Dorn im Auge waren.

Modell 1:50

 

Intervention Kulturhaus

Vor dem Kulturhaus verweist eine Intervention auf die opulente Innenraumgestaltung des Mensagebäudes, hinter der sich eine herkömmliche und kostengünstige Konstruktion versteckt. Halbstützen aus dünnem, gebogenem Stahlblech wecken den Anschein eines Portals mit massiven Säulen und profilierten Balken, erst beim Hindurchgehen verraten sie ihre wahre Beschaffenheit. Mit ihrer Nutzung als Café erinnert die Intervention an die leichteren Seiten aus der Vergangenheit Bogensees. Im Kulturhaus feierten Studierende aus unterschiedlichsten Ländern zusammen.

Modell 1:50

 

Intervention Lektionshaus

Die Intervention auf dem Appellplatz der FDJ-Schule nimmt die Monumentalität des Lektionssaals auf und verspricht etwas, das sie nicht halten kann: Am Ende des Turms wartet keine Aussicht, sondern eine einengende, hohe Wand. So erwartete auch die Studierenden nicht die Aufbruchsstimmung der ersten Nachkriegsjahre, sondern vielmehr die enge Doktrin, die in Lehre und Staat herrschte. Den Abschluss des Rundgangs bildet eine halbrunde Plattform, die den Besuchenden die Möglichkeit gibt, zusammenzukommen und zu reflektieren.

Modell 1:50

 

Die Master-Thesis wurde von Prof. Jan Kampshoff (Erstgutachter) und César Trujillo Moya (Zweitgutachter) betreut.